Schriftliche Kleine Anfrage Störfallbetriebe in Hamburg

Stephan Jersch

Anfang August kam es in einer Chemiefabrik in Billbrook zu einem Unfall, bei dem eine mit ätzender Lauge vermischte Wasserdampfwolke aus einem Tank der Firma austrat. Dabei ist nach Presseinformationen eine Tonne der Lauge „Contram“ freigesetzt worden. Während der Rettungsarbeiten wurden nach und nach größere Teile Hamburgs vor den Auswirkungen des Unfalls gewarnt. Addiert man die betroffenen Stadtteile, dann waren von der Warnung fast eine halbe Million Hamburgerinnen und Hamburger betroffen.

Anfang August kam es in einer Chemiefabrik in Billbrook zu einem Unfall, bei dem eine mit ätzender Lauge vermischte Wasserdampfwolke aus einem Tank der Firma austrat. Dabei ist nach Presseinformationen eine Tonne der Lauge „Contram“ freigesetzt worden. Während der Rettungsarbeiten wurden nach und nach größere Teile Hamburgs vor den Auswirkungen des Unfalls gewarnt. Addiert man die betroffenen Stadtteile, dann waren von der Warnung fast eine halbe Million Hamburgerinnen und Hamburger betroffen.

Für Hamburg gibt es eine Liste sogenannter Störfallbetriebe, bei denen im Falle von Unfällen von einem erhöhten Risiko für die Umgebung und die Anwohnerinnen und Anwohner ausgegangen wird. Als begleitende Maßnahme im Umfeld solcher Betriebe wird die Bevölkerung im näheren Umkreis in regelmäßigen Abständen per Postwurfsendung über das Verhalten im Katastrophenfall informiert.

Hinzu kommt, dass die Einstufung eines Betriebs als Störfallbetrieb nach den neuen Schutzzielen der Feuerwehr Hamburg, zumindest bei Störfallbetrieben in Wohngebieten, Auswirkungen auf die geforderte Zeit bis zum Eintreffen der Löschzüge hat.

Der von dem Unfall betroffene Betrieb war in der Liste der Störfallbetriebe nicht verzeichnet, obwohl er als Chemiebetrieb mit großen Mengen mindestens einer gefährlichen Lauge operiert.

Ich frage den Senat:

1.   Welche Kriterien werden in der Freien und Hansestadt Hamburg zur Einstufung eines Betriebs als Störfallbetrieb zugrunde gelegt?


Als Störfallbetriebe werden Betriebe bezeichnet, die in den Anwendungsbereich der zwölften Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Störfall-Verordnung-12. BImSchV) fallen. Mit der Störfall-Verordnung wurden die EU-Richtlinie 96/82/EG (Seveso-II-Richtlinie) und die dort aufgeführten Kriterien in deutsches Recht umgesetzt. Insofern gelten in ganz Europa die gleichen Einstufungskriterien.

Die Kriterien für die Einstufung eines Betriebs als Betriebsbereich sind dem Anhang I der Störfall-Verordnung zu entnehmen.

Dort werden Stoffe nach ihren Gefährlichkeitsmerkmalen (sehr giftig, giftig, brandfördernd, explosionsgefährlich, entzündlich, umweltgefährlich, kanzerogen...) genannt und zahlreiche Stoffe werden direkt namentlich aufgeführt.

2.    Welche dieser Kriterien hat der Chemiebetrieb in Billbrook nicht erfüllt?

Die Anlage unterfällt nicht dem Anwendungsbereich nach § 1 der Störfallverordnung, weil keiner der in Anhang I der Verordnung genannten gefährlichen Stoffe in den dort genannten Mengen vorhanden ist.

3.    Gibt es weitere Betriebe in Hamburg, die zumindest die hier beteiligte Lauge „Contram“ oder ähnliche Gefahrstoffe auf ihrem Gelände einsetzen beziehungsweise lagern, und sind diese Betriebe als Störfallbetrieb klassifiziert?

Laugen wie „Contram“ gehören zu den Grundchemikalien und werden vielfach in der chemischen Industrie eingesetzt. Je nach Einstufung dieser Chemikalien, zum Beispiel als umweltgefährlich, kann der Einsatz einer solchen Chemikalie in Abhängigkeit von der vorhandenen Menge dazu führen, dass ein Betrieb unter den Anwendungsbereich der Störfall-Verordnung fällt. Diesbezügliche Erkenntnisse liegen der zuständigen Behörde nicht vor.

4.   Laut Presseberichten wurde der Unfall von einer Reinigungskraft auf dem Firmengelände festgestellt. Ist diese Darstellung richtig?

Ja.

Wenn ja:
a.    Wann wäre der Unfall ohne diese zufällige Beobachtung festgestellt und gemeldet worden? Welche Mechanismen hätten hier gegriffen?


Der Senat äußert sich zu hypothetischen Fragen grundsätzlich nicht.

Wenn nein:
b.    Wie wurde die Unfalllage bekannt?


Entfällt.

5.    Gibt es seitens der Freie und Hansestadt Hamburg Überlegungen, die Kriterien zur Einstufung von Betrieben als „Störfallbetrieb“ zu ändern?

Nein.

Wenn ja:
a.   Wie sehen diese Überlegungen aus und welche Behörden sind daran beteiligt?


Entfällt.

Wenn nein:
b.    Ist der Senat der Auffassung, dass angesichts der zuletzt gehäuft aufgetretenen Unfalllagen und den damit verbundenen (zum Teil auch länger dauernden) Evakuierungen die Einstufung von Betrieben auf dem Gebiet Hamburgs ausreichend ist?


Wenn ja:
i.     Bitte auf Basis der letzten Unfälle begründen.


Der Senat kann die Kriterien zur Einstufung von Betrieben als Störfallbetrieb nicht eigenmächtig ändern, da diese Kriterien in einer Verordnung des Bundes zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes festgelegt sind.

6.    Wie groß war bei dem konkreten Unfall in Billbrook die Zone, in der von gesundheitlichen Beeinträchtigungen für Menschen ausgegangen werden kann?

Die Festlegung einer entsprechenden Zone durch die Feuerwehr erfolgte nicht.

Die Schadstoffwolke bewegte sich vom Schadensort mit rund 6 – 7 km pro Stunde in Richtung Alster. Bis zu einem Kilometer vom Austrittsort entfernt in Windrichtung konnte der freigesetzte Stoff anhand der entsprechenden RTW-Alarmierungen registriert werden.

7.   Welche Bewertungsmaßstäbe/Grenzwerte werden für die Beurteilung der Gesundheitsgefährdung zugrunde gelegt?

Für die Beurteilung der Gesundheitsgefährdung werden durch die Feuerwehr die entsprechenden AEGL-Werte (ACUTE EXPOSURE GUIDELINE LEVELS) zugrunde gelegt.

8.   Welche Unfälle im Zusammenhang mit Chemikalien gab es seit dem 1.1.2015 in Hamburg?

a.   Welche dieser Unfälle bezogen sich auf als Störfallbetriebe eingestufte Betriebe?
b.   Wie viele Anwohnerinnen und Anwohner waren jeweils davon betroffen? (Bitte jeweils die Gesamtzahl angeben und weiter unterteilen nach „gesundheitlich beeinträchtigt“/verletzt und evakuiert, sofern zutreffend.)


Seit dem 1. Januar 2015 wurde die Feuerwehr Hamburg zu 15 Einsätzen in Störfallbetrieben gerufen.

Die Anzahl der insgesamt betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner wird von der Feuerwehr Hamburg nicht erfasst. Es werden lediglich im Rahmen der von den eingesetzten Notärzten vorgenommenen „Sichtung“ die Anzahl der Verletzten beziehungsweise der Betroffenen erfasst. Eine weitergehende Unterteilung nach „gesundheitlich beeinträchtigt/verletzt und evakuiert“ erfolgt nicht.

c.    Gibt es aufgrund der diesjährigen Chemieunfälle noch bestehende Evakuierungen?

Wenn ja:
i.     Auf welchen Unfall/welche Unfälle beziehen sich diese?


Noch bestehende Evakuierungen sind der zuständigen Behörde nur im Falle Marckmannstraße (siehe Anlage) bekannt.

d.    Welche Umweltauswirkungen waren durch die Unfälle zu verzeichnen?
i.     Wie wurden diese Umweltschäden beseitigt?
ii.     Gibt es derzeit Umweltauswirkungen, die fortbestehen?
Wenn ja:
1.   Welche sind dies und auf welchen Unfall beziehen sie sich?
e.    Welche Kosten haben die Unfälle der Freien und Hansestadt Ham-
burg verursacht? Und welche Kosten werden gegebenenfalls noch anfallen?
i.     Geht der Senat davon aus, dass diese Kosten vollständig durch die Verursacher getragen werden?


Der zuständigen Behörde sind seit dem 1. Januar 2015 (Stand 5. Oktober 2015) insgesamt sechs Fälle mit Chemikalienunfällen größeren Ausmaßes bekannt (siehe Anlage). Ausgenommen davon sind Ölunfälle im Hamburger Hafengebiet, welche statistisch nicht als Chemikalienunfälle geführt werden. Keine der bekannten Unfälle hatte – nach derzeitigen Wissensstand – nachhaltige Auswirkungen auf die Umwelt. Unmittelbare Kosten sind der zuständigen Behörde nur im Falle Marckmannstraße entstanden. Die Höhe der entstandenen Kosten ist noch nicht vollständig ermittelbar. Die Beitreibung der Kosten wird derzeit noch geprüft.

9.    Wie viele Hamburgerinnen und Hamburger wohnen im Bereich von bisher deklarierten Störfallbetrieben und werden turnusmäßig über das Notfallverhalten informiert?

10.  Wie sieht die regelmäßige Information der unter 9. aufgeführten Gruppe konkret aus und wie häufig wird informiert?


In Hamburg fallen zurzeit 63 Betriebe unter die Pflichten der Störfall-Verordnung. Davon liegt die Hälfte im Hafengebiet. Insgesamt leben circa 100.000 Hamburgerinnen und Hamburger im Bereich von Störfallbetrieben.

Nach § 11 der Störfall-Verordnung muss der Betreiber eines Betriebsbereichs mit erweiterten Pflichten (siehe Nummer 1) alle Personen und Einrichtungen mit Publikumsverkehr, wie etwa Schulen und Krankenhäuser, die von einem Störfall in diesem Betriebsbereich betroffen werden könnten, vor Inbetriebnahme über die Sicherheitsmaßnahmen und das richtige Verhalten im Fall eines Störfalls in einer auf die speziellen Bedürfnisse der jeweiligen Adressatengruppe abgestimmten Weise informieren.

Diese Aufgabe wird in Hamburg von den betroffenen Betrieben unter Federführung der Handelskammer geleistet.

Zu diesem Zweck wurde zuletzt 2013 zum fünften Mal eine Broschüre erstellt, die Verhaltensanweisungen in deutscher, englischer, türkischer und russischer Sprache sowie die Beschreibungen und Kontaktdaten der „Störfall-“Betriebe enthält. Darüber hinaus sind die Betriebe in der Mitte der Broschüre auf einer Karte von Hamburg markiert dargestellt.

Mit einer Gesamtauflage von 120.000 Exemplaren werden die Bewohnerinnen und Bewohner im Bereich von Störfallbetrieben erreicht.

Entsprechend den Vorgaben der Störfall-Verordnung wird ein Zeitraum von fünf Jahren, innerhalb dessen die der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Informationen wiederholt werden müssen, nicht überschritten. Die Broschüre ist im Internet verfügbar. Darüber hinaus besteht über den Katastrophenwarndienst der Behörde für Inneres und Sport für jede Bürgerin und jeden Bürger der Stadt die Möglichkeit, sich per SMS oder Mail über eine mögliche Gefahrenlage informieren zu lassen (http://www.hamburg.de/warnungen/). Diese Warnungen betreffen alle Arten von Katastrophen.

11.  Werden Zuzüge im Bereich von Störfallbetrieben regelhaft beim Einzug über das Notfallverhalten informiert?
Wenn ja:
a.    Welche Stelle ist dafür zuständig?
Wenn nein:
b. Warum nicht?


Die zuvor genannte Broschüre liegt in den Bezirksämtern aus. Die Verfügbarkeit der Broschüre im Netz stellt eine aktuelle Information auch für Neubürgerinnen und Neubürger dar. Darüber hinaus informieren die Betriebe zum Teil auch durch direkten Kontakt, wie zum Beispiel „Tage der offenen Tür“. Überlegungen zu weiteren Maßnahmen sind noch nicht abgeschlossen.

12. Angesichts des konkreten Warnbereichs im Falle des Unfalls in Billbrook: Ist der Senat der Meinung, dass der geografische Bereich für die Information der Bevölkerung zu Störfallbetrieben „in der Nachbarschaft“ ausgeweitet werden muss?

Mit der zuvor beschriebenen Broschüre werden die Personen informiert, die im Bereich von Störfallbetrieben leben. Somit werden Personen, die im Falle einer durch einen im Störfallbetriebsbereich verursachten Betriebsstörung direkt betroffen sein können, konkret auf das Verhalten im Falle eines Störfalles hingewiesen.

Im Fall des Unfalls in Billbrook lag eine Betriebsstörung vor, die von einem Nicht-Störfallbetrieb ausging. Auch derartige Unfälle können einen großen Einsatz von Hilfskräften erfordern, da unter anderem zahlreiche Menschen betroffen sind.

Zudem hat jede Betriebsstörung eine eigene Dynamik, so wird der Evakuierungsbereich zum Beispiel durch die Wetterverhältnisse (Windrichtung, Windstärke,...) und auch die Tageszeit beeinflusst. Durch eine weitere Streuung der Broschüre wird daher keine Verbesserung der Situation herbeigeführt.

13. Welche Auswirkungen hat der Schutzzielwechsel bei der Feuerwehr Hamburg auf die Bekämpfung von Unfallszenarien wie zuletzt in Billbrook nach Einschätzung des Senats?

Keine. Der Schutzzielwechsel bezieht sich auf Vorgaben im Bereich Brandschutz. Die Anzahl und die Stützpunkte der Feuer- und Rettungswachen haben sich seitdem nicht verändert.

14. Warum werden Störfallbetriebe außerhalb von Wohngebieten nicht anders im Schutzziel der Feuerwehr Hamburg eingestuft als andere Seehafen- und Industriegebiete, nämlich lediglich in Risikoklasse II?

Siehe Antwort zu 13. Im Übrigen ist seit dem 3. Februar 2014 in Hamburg das System der Risikoklassen durch das einheitliche Schutzziel des kritischen Wohnungsbrandes ersetzt worden.

15.  Wie lange hat es im konkreten Fall in Billbrook zwischen Alarmierung und Eintreffen der Feuerwehr gedauert? Bitte für 1., 2., 3. Zug und gegebenenfalls weitere Einsatzkräfte spezifizieren.

 

ZeitKräfte
06. August 2015, 20.45 UhrErstalarmierungszeit HLZ*-25 und der Umweltzug der TuUW** 32
06. August 2015, 20.49 UhrHLZ-25 als 1. Zug an der Einsatzstelle
06. August 2015, 21.06 UhrEinheiten TuUW 32 komplett an der Einsatzstelle
06. August 2015, 21.26 UhrHLZ-21 und 23-HLF alarmiert
06. August 2015, 21.28 UhrHLZ-33 und 34-HLF1 alarmiert
06. August 2015, 21.36 UhrHLZ 21 komplett am Einsatzort
06. August 2015, 21.42 Uhr23-HLF2 am Einsatzort
06. August 2015, 21.47 Uhr34-HLF1 am Einsatzort

*    HLZ – Hamburger Löschzug **   Technik- und Umweltwache

 

SchadenstagSchadenortAdresseSchadstoffSchadenstypStadtbezirkStadtteilMeldung
07.01.2015Hamburg-Mitte, WaltershofBurchardkaiFlüssigkeit UN-Nr.; 1917Auslaufen v. Schadstoff aus Container/FassHamburg-MitteWaltershofHHLA-Melung, 1 Mitarbeiter klagte über Kopfschmerzen, keine weiteren Vorkommnisse
19.05.2015Hamburg-Mitte,WaltershofBurchardkaiValeriansäure (UN-Nr.: 3265; Gefahrklasse 8)Auslaufen v. Schadstoff aus Container/FassHamburg-MitteWaltershofSchiff mit Gefahrgutcontainer, welcher leckte - Container durch Feuerwehr abgedichtet und Austritt gestoppt
04.08.2015Hamburg-Mitte,RothenburgsortMarckmannstraße 2Ätherische ÖleBrandschadenHamburg-MitteRothenburgsortBunkerbrand mit ätherischen Ölen
06.08.2015Hamburg-Mitte,BillbrookBillbrookdeich 157N,N-Methylen-Bismorpholin (CONTRAM)GasaustrittHamburg-MitteBillbrookGasaustrtitt aus undichten Tank in Produktionsstrecke (Lubrizol)
18.08.2015Harburg, HeimfeldLauenbrucher Deich 12Kohlendioxid (CO2)GasaustrittHarburgHeimfeldPassanten klagten über Kopfschmerzen - bei Lagerhaus Spedition wurde Leckage bei Co2-Tank festgestellt
15.05.2015WilhelmsburgFettsäurenÜberfüllung eines BehältersMitteWilhelmsburgÜberfüllung eines Tanks mit Sojafettsäure und Austreten eines Teils dieser Menge auf ein Nachbargrundstück.